The Grammar of Dictatorships: Past (is) continuous, Future – indefinite?

The Grammar of Dictatorships: Past (is) continuous, Future – indefinite?

Organisatoren
Thomas Bohn / Iryna Ramanava, Professur für Osteuropäische Geschichte, Justus-Liebig-University Gießen
Förderer
Deutscher Akademischer Austauschdienst (DAAD); Gefangenes Wort e.V., Gießener Zentrum östliches Europa (GiZo)
Ort
Gießen
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
01.06.2023 - 02.06.2023
Von
Joseph Karl-Friedrich Brömel, Justus-Liebig-Universität Gießen

Lange Zeit galt die Republik Belarus unter ihrem Machthaber Lukašenko als „die letzte Diktatur Europas“.1 Als sie 2020 medienwirksam von den Massenprotesten gegen die manipulierte Präsidentenwahl erschüttert wurde, zeigte sie ihr wahres Gesicht. Doch die weiß-rot-weiße Revolution wurde niedergeschlagen, und die Repressionen gegen die Zivilgesellschaft wurden ausgeweitet. Außenpolitisch hat der Einmarsch Russlands die (geo-)politische Lage im ostslawischen Raum grundlegend verändert. Der politische Kontext der Republik Belarus also hat sich in mehrfacher Hinsicht verändert und verlangt nach einer neuen Einordnung.

Die interdisziplinäre Zusammensetzung der Gießener Diskussionsrunde aus Historikern, Politikwissenschaftlern und Slawisten auf der einen sowie aus Journalisten, Regisseuren und Schriftstellern auf der anderen Seite schuf eine multiperspektivische Annährung an die Natur des Lukašenko-Regimes und bot so den Teilnehmenden vertiefte Verständnismöglichkeiten für die Geschehnisse von 2020.

Am Rande des Workshops fand auch die Verleihung der Justus-Liebig-Medaille an Viktor Shadurski statt, der sich als ehemaliger Dekan der Fakultät für internationale Beziehungen jahrelang für die Kooperation zwischen der Belarussischen Staatsuniversität Minsk und der Justus-Liebig-Universität Gießen engagiert hatte. Seit dem auch von belarussischem Territorium geführten Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 ruht indes die Universitätspartnerschaft. Stattdessen wird der Belarus-Schwerpunkt am GiZo über die DAAD-Gastdozentur von Iryna Ramanava weitergeführt, die der Europäischen Humanitären Universität in Vilnius, einer belarussischen Exiluniversität, angehört.

Wie THOMAS BOHN (Gießen) in seiner einführenden Rede skizzierte, gehe es vor diesem Hintergrund darum, darüber nachzudenken, wie man das autoritäre Regime in der Republik Belarus bezeichnen könne. Es stelle sich die Frage nach der Tauglichkeit von Begriffen wie „Totalitarismus“, „politische Religion“, „moderne Diktatur“ oder „Autokratie“. Die vergleichende Diktaturforschung müsse ihren Fokus entsprechend vom 20. in das 21. Jahrhundert verlagern, regte der Historiker an.

Das erste Panel versuchte durch die Akzentuierung verschiedener Bereiche belarussischer Lebenswelten die Besonderheiten des Systems unter Lukašenko sichtbar und verständlicher zu machen. Die im schweizerischen Exil lebende belarussische Lyrikerin und Übersetzerin JULIA CIMAFIEJEVA (Zug) schilderte, dass das Regime den kulturellen, insbesondere den literarischen Sektor vor 2020 nicht als Bedrohung wahrgenommen hatte. Zwar waren die Zugänge zu den Massenmedien staatlich geregelt, aber die wenigen unabhängigen Verleger bildeten eine kleine Insel mit beschränkter Ausstrahlung. Seit 2020 nahmen die Repressionen gegen die freie Literaturszene allerdings stark zu; auf Zensur, Verhaftungen oder Verbote von als extremistisch eingeordneten Büchern reagierten belarussische Schriftsteller vielfach mit Flucht oder Selbstzensur. Während im Land verbliebene Autoren politische Themen aussparen (müssen), wird die Diktatur in der belarussischen Exilliteratur vermehrt behandelt.

VICTOR SHADURSKI (Wrocław) beleuchtete die historische Perspektive auf das politische Modell der Republik Belarus und warf die Frage auf, ob es als Teil eines größeren Prozesses oder als eine Anomalität aufgefasst werden müsse. Er entwarf einen Entwicklungsstrang, der von der in breiten Bevölkerungskreisen positiv erinnerten Sowjetzeit ausging. Die populistische Bezugnahme auf diese Tradition habe Lukašenko zur Macht geführt. Seine Hinwendung zum Autoritarismus sei damit geradezu fatalistisch vorherbestimmt gewesen. Der exilierte Historiker wies auch auf die kontrastreiche Balance des Landes zwischen der wirtschaftlichen Abhängigkeit von Russland und den kulturellen Einflüssen der Europäischen Union hin. Letztere habe sich nicht nur in humanitären Aktionen wie Tschernobylhilfe und Zwangsarbeiterentschädigung, sondern auch in einer relativen Reisefreiheit manifestiert. Die Proteste seien einer neuen, furchtlosen Generation zu verdanken, die erkannt habe, dass der Präsident keine Lösungsansätze für aktuelle gesellschaftliche Probleme habe. Da sowohl freiheitliche als auch autoritäre Impulse in der jüngeren Landesgeschichte von außen gekommen seien, bleibe abzuwarten, wie sich der Ausgang des Ukrainekrieges auf die Politik des Landes auswirke.

PAVEL SLUNKIN (Warszawa) wies ergänzend darauf hin, dass die auf Isolation und Hoffnungslosigkeit der Menschen abzielenden Repressionen und Restriktionen wichtige Signa von Diktaturen seien. Diesen könne man vor allem mit Bildung und der Befähigung zu kritischem Denken beikommen. Allerdings betonte er, dass die Sowjetunion keinen direkten Nachfolger in ihrer Rolle als Förderin von Autokratien gefunden habe. Es sei außerdem zu beobachten, dass momentane Negativtrends in einzelnen europäischen Staaten populistisch und nicht autokratisch seien. Auch die Belarussen seien empfänglich für populistische, nicht aber für autoritäre Narrative. Dies sei ein entscheidender Unterschied zu Russland, dessen Bevölkerung zu weiten Teilen imperialistisch denke. Belarus stehe nun am Scheideweg: Ein repressives System, in dem sich viele Menschen nicht zuletzt durch Reisen nach Europa eine liberale, europäische Geisteshaltung angeeignet hätten, kennzeichne die Situation.

Die anschließende offene Diskussion beschäftigte sich insbesondere mit der Frage nach der Rolle bzw. der Existenz einer belarussischen Elite. Bei der begriffskonzeptionellen Diskussion zeichneten sich ein auf der individuellen Position in der Gesellschaft beruhendes Konzept und ein moralbasierter Ansatz ab. Auf das Beispiel der Republik Belarus übertragen, ergab sich so auch die Frage nach tatsächlichen Handlungsspielräumen der Elite.

Befürworter eines fatalistisch-diktatorischen Systems plädierten in der Diskussion vor allem für die sowjetische Prägung. Die sowjetischen Repressionen hätten apathische Handlungsmuster hervorgerufen, die generationell weitergegeben worden seien und ein Überleben im System sichern sollten. Dass es dennoch zu den Ereignissen des Jahres 2020 gekommen sei, liege vor allem in den vorangegangenen, verhältnismäßig liberalen sieben Jahren begründet. Die liberale Phase sei eine ausbalancierende Reaktion auf die russische Besetzung der Krim gewesen. Die Hoffnung der jungen Menschen, die in dieser Zeit groß geworden waren, sei ein Hauptauslöser der Proteste gewesen, die das diktatorische Schicksal des Landes aufgebrochen habe.

Die öffentliche Lesung von Julia Cimafiejeva und ALHIERD BACHAREVIČ (Zug) eröffnete eine lyrische und literarische Perspektive auf das Thema. Die Autoren wiesen auf die repressive Politik des belarussischen Regimes gegen Kultur und Wissenschaft hin und betonten die politische Funktion von Literatur. Bacharevič versteht es als seine Aufgabe, über sein Land zu sprechen und es vor dem Vergessen zu bewahren. Der Topos von tradierten und immer weitergegebenen Verhaltensmustern in Diktaturen wurde in Form des Gedichts „Der Angststein“ von Cimafiejeva auch an dieser Stelle wieder aufgegriffen.2 Im Gedicht wird die lähmende Angst als Stein objektiviert, der als Familienerbstück von Generation zu Generation weitergegeben wird.

Im zweiten Panel arbeitete Alhierd Bacharevič zunächst die Proteste von 2020 als einen Wendepunkt im staatlichen Umgang mit freier Kultur heraus: weg von einer relativen Freiheit in abgesteckten Räumen hin zu einer flächendeckenden Repression, die Kultur und Literatur als potentielle Gefahren ansieht.

TANIA ARCIMOVICH (Gießen) stellte besonders den verengenden Aspekt der Begrifflichkeit Diktatur heraus. Dieser könne nationalen Besonderheiten und Komplexitäten nicht gerecht werden. Sie hob außerdem hervor, dass es kaum Wissen über die momentanen belarussischen Überlebensstrategien gebe. Es sei aber zu erwarten, dass Veränderungen vom Inland und nicht vom Exil ausgehen werden.

ALIAKSEI BRATACHKIN (Hagen) betonte die prozesshafte Natur von Autokratien. Sie unterliefen in ihrer Konsolidierung unterschiedliche Phasen, die auch liberal ausgeprägt sein können. Außerdem beschrieb er das Verhältnis der belarussischen Bevölkerung zu Lukašenko als einen Gesellschaftsvertrag, in dem die Bevölkerung für ihre Apathie und den Verzicht auf aktiven Widerstand Stabilität erhalte.

SIMON LEWIS (Bremen) skizzierte die belarussische Diktatur als Monokultur, die sich vor allem in neosowjetischer Manier auf den Partisanenmythos und den Zweiten Weltkrieg als Legitimationsgrundlage stütze. Außerdem betreibe das Regime eine gewaltsame „Reinigung der Sprache“. Im Kontrast dazu stehe die Vielfalt der unabhängigen belarussischen Kultur, die für Multiperspektivität und Multilingualität stehe. Lewis plädierte für einen postkolonialen Ansatz, in dem die russische Sprache zu provinzialisieren sei. Aus der gebrochenen Dominanz des Russischen soll in diesem Ansatz ein gleichberechtigtes Nebeneinander mehrerer Sprachen hervorgehen.

Die anschließende Diskussion vermittelte ein geschärftes Bild der gegenkulturellen Literatur- und Kulturszene vor 2020, die sich durch fehlendes staatliches Gefahrenbewusstsein des Staates gleichsam unter der monokulturellen Kulturoberfläche bilden konnte. Es gebe eine Vielzahl belarussischer Realitäten, von denen die sprachlichen lediglich die auffälligsten, die Gegenpole prorussisch bzw. proeuropäisch hingegen eine komplexitätsverengende Vereinfachung seien.

Zu Beginn des dritten Panels stellte Marie Prenner die These auf, dass die Wiedergabe der belarussischen Sprache im Latinica seit dem russischen Angriff auf die Ukraine wieder an Bedeutung gewonnen habe. Die Diskutanten stellten fest, dass sowohl die Benutzung der belarussischen Sprache als auch die lateinische Schreibweise eine aktive Selbstverordnung in einem demokratisch gelesenen Mittelosteuropa, das sich von Russland distanziert, darstelle.

Die sprachliche Zukunft des Landes sei regional-hybrid, argumentierte NATALLIA PAZNIAK (Gießen). Dies sei aber an eine langfristig demokratische Entwicklung gebunden, da auch im belarussischen Kontext diktatorische Strukturen dazu neigen, Vielsprachigkeit stufenweise einzuschränken, führte ANDREI ZINKEVICH (Wien) aus. Aber ähnlich wie andere Diktatoren versuche auch Lukašenko, die Vielsprachigkeit im Land stufenweise einzuschränken. Folglich gäbe es einen Zusammenhang zwischen sprachlichen und politischen Entwicklungen im Land, so Zinkevich. Er untermauerte seine These mit einem historischen Rückgriff auf die nationalsozialistische Sprachpolitik in den besetzten Gebieten Osteuropas. In diesem Zusammenhang bezeichnete er die politisch segregative und auf Diskriminierung abzielende russozentrische Sprachpolitik Lukašenkos als eine innere Okkupation der belarussischen Kulturlandschaft.

Der Regisseur ALIAKSEI PALUYAN (Kassel), der für seinen Dokumentarfilm „Courage“ über die belarussische Revolution mit dem Hessischen Filmpreis ausgezeichnet worden war, bestätigte die Dominanz des Russischen im noch immer in sowjetischer Tradition stehenden belarussischen Kino. Er schilderte auch das allgemeine Verlangen nach einer national-belarussischen Filmkultur. Die Zugehörigkeit zu einer solchen nationalen Filmkultur sei primär am individuellen Zugehörigkeitsgefühl des Regisseurs festzumachen.

In seinem Schlusswort fasste PAVEL TERESHKOVICH (Vilnius) die Diskussion dahingehend zusammen, dass sich der Diktator Lukašenko weder auf eine solide Ideologie noch auf eine politische Massenmobilisierung stützen könne. Auf der Grundlage populistischer Demagogie und ausgeklügelter Propaganda suche er seine Macht zu festigen und steigere dabei unweigerlich das Ausmaß der Gewalt gegen politische Gegner. Dementsprechend herrsche in der Republik Belarus gegenwärtig eine Atmosphäre der Angst.

Summa summarum scheint das östliche Europa im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts im Bann von Putins Konzept der „Russischen Welt“ zu stehen. Außenpolitischer Revisionismus und innenpolitischer Paternalismus sind wichtige Komponenten seiner Politik. In diesem Zusammenhang ist in der Republik Belarus nach dreißig Jahren staatlicher Eigenständigkeit ein allmählicher Generationswechsel zu konstatieren. Während die Kohorte, die noch als homo sovieticus bezeichnet werden kann, zwangsläufig von der Bühne abtritt, treten nun zunehmend Akteure auf, deren Kreativität auf kulturelle Autonomie setzt und deren Vernetzung auf Phänomenen der Globalisierung beruht. Die Stimmen aus dem Exil, die beim Workshop zu hören waren, zeigen, dass die Zeichen der Zeit auf Fragen der Identität und der Nationsbildung stehen. Der akademisch angelegte historische Diktaturenvergleich kam in den Debatten demgegenüber zu kurz.

Konferenzübersicht:

Introduction: Thomas Bohn (Giessen)

Panel 1. Inside the hybrid reality of postmodern dictatorships
Chair: Roza Turarbekava (Vilnius)

Discussants: Pavel Slunkin (Warsaw) / Victar Shadurski (Wrocław) / Julia Cimafiejeva (Zug)

Public Reading: Julia Cimafiejeva and Alhierd Bacharevič (Zug)

Panel 2. The strategies of counter-cultures: A territory of (un)freedom
Chair: Iryna Ramanava (Gießen)

Discussants: Simon Lewis (Bremen) / Tania Arcimovich (Gießen) / Alhierd Bacharevič (Zug) / Aliaksei Bratachkin (Hagen)

Panel 3. Culture and Language
Chair: Maria Prenner (Gießen)

Discussants: Aliaksei Paluyan (Kassel) / Natallia Pazniak (Gießen) / Andrei Zinkevich (Wien)

Conclusion: Pavel Tereshkovich (Vilnius)

Anmerkungen:
1 Vgl. zur Landesbezeichnung und zur Schreibweise die Empfehlung der Belarusisch-Deutschen Geschichtskommission „Weißrussland heißt jetzt Belarus: Aber wie nennt man die Einwohner – Belarusen oder Belarussen?“, uepo.de, 18.08.2020; https://uepo.de/2020/08/18/weissrussland-heisst-jetzt-belarus-aber-wie-nennt-man-die-einwohner-belarusen-oder-belarussen/ (08.06.2023).
2 Vgl. Die eigene Sprache als Staatsgefährdung. In Belarus hat das Regime Lukaschenko den Repressionsapparat gegen Schriftsteller und Journalisten massiv ausgebaut, in: Gießener Anzeiger Nr. 127, 03.06.2023, S. 29, https://www.giessener-anzeiger.de/stadt-giessen/die-eigene-sprache-als-staatsgefaehrdung-92319671.html (08.06.2023); Jouini, Sascha: Die fatale Situation in Belarus. In: Gießener Allgemeine Nr. 127, 03.06.2023, S. 29, https://www.giessener-allgemeine.de/giessen/die-fatale-situation-in-belarus-92319926.html (08.06.2023).